Otto Raich, im  Jänner 2023

Der Regenmacher und das Tao

In dem Teil Chinas, in dem Richard Wilhelm wohnte, herrschte einmal eine schreckliche Dürre. Die Menschen hatten alles Mögliche unternommen, um Regen herbeizurufen, doch nichts wollte helfen. Schließlich wendeten sie sich an einen Regenmacher. Wilhelm war sehr interessiert und sorgte dafür, dass er anwesend war, als dieser, ein kleiner Greis mit faltigem Gesicht, in seinem verdreckten Wagen eintraf.

Der Regenmacher stieg aus dem Wagen und schnupperte sogleich mit deutlichen Anzeichen des Widerwillens in der Luft herum.

Dann bat er, ihn für ein paar Tage in einer Hütte außerhalb des Dorfes allein zu lassen. Die Mahlzeiten sollten ihm vor die Tür gestellt werden. 
Drei Tage lang sah und hörte man ihn nicht. Dann fing es nicht nur an zu regnen, sondern es fiel auch eine Menge Schnee, was für diese Jahreszeit äußerst ungewöhnlich war. Tief beeindruckt suchte Wilhelm den Regenmacher auf und fragte in welcher Weise er Regen und sogar Schnee gemacht hatte. Der Alte antwortete:

„Ich habe den Schnee nicht gemacht. Ich trage keine Verantwortung dafür.“

Wilhelm drang weiter auf ihn ein und wies darauf hin, dass vor seinem Eintreffen eine große Dürre geherrscht hätte. Diesmal antwortete der alte Mann:

„Das kann ich erklären. Wo ich wohne, sind die Menschen im Gleichgewicht, sie befinden sich im Tao. Also ist auch das Wetter in Ordnung. Als ich hier ankam, sah ich, dass die Menschen aus dem Gleichgewicht waren und merkte, dass sie mich damit ansteckten. Also blieb ich allein, bis ich wieder im Tao war. Dann musste es natürlich anfangen zu schneien.“

Der Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie C.G. Jung hat in seinen Lehrvorträgen gerne die Geschichte vom Regenmacher erzählt. Diese Geschichte wurde Ihm von Richard Wilhelm, einem deutschen Sinologen, der sich in der Zeit von 1900 bis 1924 in China aufhielt, vermittelt.

Jeder, der sich schon mit Geduld und Ausdauer mit Hilfe der Meditation der Herstellung seines inneren Gleichgewichts gewidmet hat, oder wie vom Regenmacher ausgedrückt, sich dem „im Tao sein“ gewidmet hat, kennt vermutlich die damit einhergehenden positiven Veränderungen im alltäglichen Leben. 

Da sind zum einen die subjektiv erlebten Geistes- und Gefühlszustände.  Vor allem die Entdeckung, dass es immer besser gelingt, im Trubel des täglichen Lebens mit den mannigfaltigen Anforderungen gelassener umgehen und klarer bleiben zu können. 

Zum anderen scheint es auch so zu sein, dass die äußere Welt auf die eigene innere Arbeit der Meditation reagiert. Damit ist nicht nur die Tatsache gemeint, dass durch unsere offene und akzeptierende Haltung sich Beziehungen und Umstände klären, sondern dass sich die Verbundenheit zwischen dem subjektiv wahrgenommenen, inneren Leben mit dem objektiv wahrnehmbaren, äußeren Leben immer öfter zeigt. Dass Dinge und Umstände die sich zuvor mühevoll darstellen, nun wie von selbst passieren, oder sich in verschiedenen Lebensbereichen zuvor geschlossene Türen plötzlich öffnen, oder wie in der Geschichte oben, es nach einer lange anhaltender Phase der persönlichen Dürre zu regnen beginnt.

Es ist damit nicht ein magischer New Age Wunschzauber gemeint, auch nicht eine ego-zentrierte Kausalität.
C.G. Jung beschreibt die Momente sichtbarer Verbundenheit zwischen Innen und Außen als „geheimnisvolle Korrelation, die es zwischen dem inneren und äußeren Leben gibt“ und nennt diese Korrelation „Synchronizität“.

Die Meditation

Erstaunlicherweise müssen wir, um diesen Weg der Verbundenheit zu beschreiten, nichts Besonderes können, oder tun, oder leisten, oder erreichen.

Was es braucht ist, sich immer wieder Zeit zu nehmen, um sich aufrecht hinzusetzen und mit einem wachen und akzeptierenden Geist all das wahrzunehmen, das im Bewusstsein auftaucht.

Und dann Dabei – bleiben. Unabhängig davon, ob die auftauchenden Inhalte als angenehm oder als unangenehm empfunden werden. Beobachten, wie sich Geistesinhalte, Gefühle, Empfindungen, Energien immer wieder verändern, beobachten wie es im Inneren mit der Zeit ruhiger und klarer wird. So wie in einem aufgewühlten Wasser Schwebstoffe absinken und das Wasser klar wird, je länger man es in Ruhe lässt.
Die Einstellung sich selbst gegenüber ist während der Meditation liebevoll, nachsichtig und auch humorvoll.

Einmal diesen Weg eingeschlagen, wird der Übende immer öfter bemerken, dass sich die Illusion des „sich von allem getrennt zu erleben“ immer mehr auflöst, er fühlt sich immer mehr im Gleichgewicht – im Tao.

Bild: Moonassi/ moonassi.com