Die Frage „Wie die Praxis in den Alltag integrieren?“ taucht immer dann auf, wenn erkannt wird, dass die eigene, regelmäßige Meditations-Praxis einen erkennbaren positiven Einfluss auf das Leben hat. Und die Sehnsucht nach dem Vertiefen und Weitergehen stärker wird.
Die positiven Auswirkungen der Praxis werden sich dabei vielfältig gezeigt haben:
Sei es, weil sich mehr Ruhe und Gelassenheit im Alltag einstellen, man das Gefühl hat sich selbst leichter in den Fluss des Lebens einfügen zu können, die täglichen Wunder gesehen und gewürdigt werden, Dankbarkeit für vieles ganz natürlich da ist, spirituelle Erfahrungen gemacht werden, oder man schlicht und einfach das Gefühl hat „bei sich anzukommen“ oder „ins Leben aufzuwachen“.
Dann fragt man sich meist, wie Meditationspraxis als wesentlicher Lebensbereich etabliert werden kann.
Wir unterscheiden dabei zwischen der formalen Praxis und der informellen Praxis.
Mit formaler Praxis meinen wir, eine bestimme Übung (Meditation oder Yoga oä Methoden) mit einer definierten körperlichen und einer bewusst gewählten geistigen Haltung, über eine
gewisse Zeit aufrecht zu halten.
Mit informeller Praxis meinen wir, im Alltag möglichst präsent zu sein, in der innere Haltung der Achtsamkeit, dem Gewahrsein verankert zu bleiben.
In diesem Blog möchte ich näher auf die formale Praxis eingehen.
Über die formale Praxis:
In Zusammenhang dem Etablieren einer formalen Praxis tauchen Fragen auf, wie zB : Was ist besser, alleine oder gemeinsam in einer Gruppe zu üben,
zu welcher Tageszeit, in der Früh oder am Abend,
sind kurze oder längere Sequenzen wertvoller,
bis hin zur Frage der Teilnahme an einem mehrtägigen Retreat, uvm.
Die Antwort auf all diese Fragen lautet: Es gibt keine allgemein gültige Antwort.
Jede konkrete Antwort würde nur die persönliche Präferenz und die persönliche Erfahrung des Antwort-Gebers widerspiegeln.
Ein Übungsweg ist vor allem eine Forschungsreise in das eigene Leben, dh die Antworten findet in erster Linie jeder selbst über die eigenen Erfahrungen im Praktizieren unter den verschiedenen Rahmenbedingungen und mit den verschiedenen Methoden.
Gleichzeitig gibt es aber Hinweise darüber, was sich für viele Praktizierende als gut und hilfreich erwiesen hat, dazu zählen unter anderem:
+ Möglichst täglich zu üben ist sehr wertvoll.
+ Täglich eine kleine oder kurze Übung ist besser als Übungszeit „aufzusparen“. Täglich eine kurze Übung ist also besser als tagelang nicht üben und dann wieder länger üben.
+ Am Morgen, gleich nach dem Aufstehen fühlen wir uns dem Tao näher.
+ Zur wiederkehrend gleichen Tageszeit zu üben, hilft.
+ Den (Wieder-) Einstieg in eine regelmäßige Übung kann die Anwendung der 21-Tage Regel sehr erleichtern: Ich nehme mir vor, 21 Tage lang täglich die gleiche Übung zu machen, mit der Einstellung „no matter what“. Dadurch können alle auftauchenden Ausrede-Gedanken für 21 Tage an der Wurzel beiseite gelassen werden. Nach 21 Tagen wird durch die Erfahrung eine starke Basis da sein.
+ Die innere Elastizität, sich zwischen Enge und Weite und sich zwischen Geschäftigkeit und Stille bewegen zu können, will täglich geübt werden.
+ Eine Übungsgemeinschaft – gemeinsam in der Gruppe zu üben – unterstützt und stärkt die eigene Praxis.
+ Beim Üben in der Gemeinschaft generiert sich ein Feld, das als eine über das individuelle hinausgehende, hohe räumliche Intensität wahrgenommen wird. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
+ Ein Retreat, ein längeres Übungssetting, zu besuchen, sich für einige Tage aus dem Alltag zurückzuziehen um sich ganz auf die Praxis zu konzentrieren, bietet die Chance, über bereits bekanntes Terrain weit hinaus zu forschen und neue Erfahrungen zu machen.
+ im Retreat haben wir zusätzlich auch die Zeit und den Raum uns in den seminarfreien Zeiten beim Nachgehen der Alltäglichkeiten in der neuen Haltung, ohne Masken und Rollen, auszuprobieren. Wir bringen uns selbst sozusagen in eine Labor-Situation.
Der Paradigmenwechsel in der Übungsfrage:
Für die meisten Menschen, die sich auf einem Übungsweg befinden, kommt irgendwann der Punkt, wo erkannt wird, dass es Zeit ist die Frage umzukehren, von „Wie die Praxis in den Alltag integrieren?“ hin zu „Wie den Alltag in die Praxis integrieren?“.
Wie schaut mein Alltag aus, wenn ich die Haltung von präsent-sein, das möglichst stetige Gewahrsein des Atems und der sich zeigenden körperlichen Empfindungen, Gedanken, Gefühle, das Gewahrsein der Präsenz der anderen, als die gesetzte Größe definiere?
Wenn ich dann im Alltag bemerke, dass meine Präsenz sich verliert, wird ein Bedürfnis nach Sammlung, als Gegenbewegung zur Zerstreuung, auftauchen. Einige Minuten des Rückzugs nach Innen genügen vielleicht, um wieder neu ganz da zu sein. Mit der Zeit entwickelt sich ein innerer Raum, oder es wird ein innerer Raum entdeckt, den manche Traditionen als Zufluchtsort bezeichnen. In der Analogie zur digitalen Welt ist der Besuch dieses Raumes wie ein Neustart des Computers, ein re-boot des Systems.
Die regelmäßige formale Praxis wird dann nicht mehr (nur) als Übung, die Disziplin erfordert, erlebt sonders es entsteht immer mehr die Vorfreude darauf.
Sich darauf einzulassen ist Ausdruck eines vollzogenen Paradigmenwechsel.
Der innere Ort, von dem heraus wir die Welt wahrnehmen, ist dann ein anderer.
Alle sich zeigenden Umstände und Phänomene werden als Ausdruck des sich ständig in jedem Moment neu gebärenden Lebens wahrgenommen, wir als Co-Kreierende und Staunende mittendrin.
Otto Raich, im Mai 2022
Bilder: Eigenaufnahmen am „Großer Bach“ in Reichraming
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